Hochflur oder Niederflur hat nichs mit Teppichen zu tun, hier geht es um eine sehr wichtige Frage in der Stadtplanung. Die Entscheidung, ob die Fahrzeuge der Straßenbahn einen hohen Boden oder einen niedrigen Boden haben, ist nicht nur wichtig für Senioren, Personen mit schwerem Gepäck, Personen, die Kinderwagen schieben oder Einkaufstrolleys ziehen. Sie entscheidet auch über die Erreichbarkeit der anderen Straßenseite oder anliegenden Grundstücken.
In vielen deutschen Städten prägten gegen Ende des letzten Jahrhunderts die Achtachser GT8 der Düwag das Straßenbild. Diese Fahrzeuge hatten einen hohen Einstieg, man konnte nur über Treppenstufen einsteigen. Hohe Bahnstiege, die das ebenerdige Einsteigen ermöglicht hätten, gab es damals noch nicht, teilweise hielten die Fahrzeuge in der Straßenmitte und die Fahrgäste mussten vom Straßenniveau einsteigen (die erste Treppenstufe lag sehr hoch über Straßenniveau), das war äußerst problematisch für ältere Menschen. Auch in Stuttgart verkehrten solche Wagen, hier allerdings als GT4, mit 4 Achsen und einem zusätzlichen Anhänger.
Um barrierefrei zu werden haben viele Städte dann ab etwa der 1980er Jahre begonnen, ihre alten Fahrzeuge zu verschrotten oder in das Ausland zu verkaufen und gegen neue modernere Fahrzeuge auszutauschen. Dabei viel die Entscheidung oftmals zugunsten der Hochflurtechnik. Diese Fahrzeuge hatten wiederum einen hohen Boden, unter dem Boden befand sich die Antriebstechnik. Die Konstruktion der Gelenkachsen (für einen ebenerdigen Durchgang zwischen den Zugteilen) ist bei diesen Fahrzeuge weniger anspruchsvoll. Die Niederflurfahrzeuge waren damals aber bereits erhältlich. Ihre Antriebstechnik ist aufwendiger und auch die Aufhängung der Zugabteile ist anspruchsvoller, deshalb waren diese Fahrzeuge teurer in der Anschaffung.
Städteplanerisch boten und bieten diese Fahrzeuge aber einen wesentlichen Vorteil. Bis auf die Schienen lassen sich Niederflurstrecken fast unsichtbar in das Stadtbild integrieren. Die Bahnsteige haben zu den Bürgersteigen eine nur geringfügig höhere Bordsteinkante.

Neue Stadtbahnhaltestelle in Erfurt. Die Fahrgäste warten auf dem Gehsteig und der Autoverkehr fährt über die kombinierte Straße/ Haltestelle. Sobald die Stadtbahn in die Haltestelle einfährt, wird der Verkehr mit Hilfe der Ampel angehalten, die Fahrgäste können dann die Fahrbahn betreten und einsteigen.
Die Hochbahnsteige, so wie sie auch in Stuttgart gebaut wurden, sind dagegen mit einer Kantenhöhe von ca. 1 Meter wie eine Trennwand auf der Straße, unüberwindbar für jeden Fußgänger.

Bild der Station Karl-Olga-Krankenhaus in der Hackstraße in Stuttgart. Der Verkehr wird hier rechts an der Haltestelle vorbeigeführt. Die hohe Wand des Bahnsteigs, die in der Fahrtrichtung steht, bildet eine Gefahrenquelle für den Verkehr. Außerdem verbraucht der hohe Bahnsteig Platz im engen Straßenraum.
Die hohe Kante stellt außerdem eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer dar, die um diesen hohen Bahnsteig herumfahren müssen. Bei einem Aufprallunfall gegen den Bahnsteig kann die harte Betonwand zu erheblichen Verletzungen führen. Radfahrer müssen außerdem an diesen Bahnsteigen zweimal in einem flachen Winkel über die Gleise fahren. Während auf freier Strecke meistens ein genügend breiter Raum zwischen dem rechten Gleis und den am rechten Fahrbahnrand parkenden Automobilen herrscht, muss der Radfahrer im Haltestellenbereich in den Gleisraum wechseln (zwischen die beiden Gleise) um nicht mit dem Bahnsteig zu kollidieren. Das Überfahren der Gleise kann aber zu schweren Stürzen führen.

Haltestelle Bergfriedhof, ebenfalls auf der Hackstraße. Hier ist der Straßenraum nicht breit genug, sodaß die Haltestellen versetzt zu einander gebaut werden mussten und der Verkehr außerdem innen durch die Haltestelle geleitet werden und nicht außen vorbei fahren kann. Der Überstand des Bahnsteigs ist eine Gefahrenquelle für den Verkehr. Der Wechsel in den Gleisraum stellt hier außerdem ein Sturzrisiko für den Radfahrer dar. Der Bürgersteig hinter der Haltestelle ist zwar für Radfahrer freigegeben, bei hohem Fahrgastaufkommen ist das Vorbeifahren an der Haltestelle aber nicht möglich und führt zu Konflikten mit den Fußgängern, die oftmals nicht wissen, dass der Gehweg hier für Radfahrer freigegeben ist und dann meckern oder beleidigend oder sogar handgreiflich werden.
Hochbahnsteige blockieren außerdem die anliegenden Grundstücke und können deshalb nicht überall gebaut werden. Und Hochbahnsteige sind nicht barrierefrei, auch wenn auf einer oder beiden Seiten eine Rampe angebaut wurde, muss man mit einem Kinderwagen einen Umweg in Kauf nehmen und den Bahnsteig im schlechtesten Fall links liegen lassen um auf die andere Seite der Haltestelle zur Rampe zu gelangen. Die Haltestellen Bergfriedhof oder Bad Cannstatt Wilhelmsplatz (nur der Bahnsteig der Linie 13), sind sogar so stark zwischen Grundstücken eingezwängt, dass diese Bahnsteige nicht verlängert werden können. Dies zwingt die SSB dazu, diese Linien mit Einzug-Fahrzeugen zu befahren anstatt mit Doppelzugfahrzeugen wie beispielsweise die Linie 6 oder die neue Linie 12 nach Dürrlewang / Hallschlag. Das ist gerade bei der Linie 13 morgens im Berufsverkehr besonders gefährlich, denn der Bahnsteig ist schmal, wird aber morgens von sehr vielen Fahrgästen benutzt, die zur Glockenstraße oder nach Feuerbach in die Industriegebiete zur Arbeit fahren wollen. Durch die an der Haltestelle vorbei fahrenden Fahrzeuge werden hier jeden Morgen Menschenleben gefährdet.
Stuttgart hat leider den Fehler begangen, sein Netz komplett für Hochflurfahrzeuge auszubauen. Ludwigsburg steht aktuell vor der Entscheidung, ob man eine Straßenbahn bauen soll, der Gemeinderat hat sich am 25.2. für ein System mit Niederflurtechnik entschieden.
Köln hat bereits in den 1990 Niederflurfahrzeuge gekauft und einige Linien mit diesen Fahrzeugen betrieben, andere Linien wurden weiter mit Hochflurfahrzeugen befahren. Das hat natürlich den Nachteil, dass man für zweierlei Systeme in den Werkstätten Ersatzteile vorhalten muss, Fahrer und Techniker auf zweierlei Systemen ausbilden muss und die Fahrzeuge nicht willkürlich auf dieser oder jener Linie fahren können. Im Falle eines Ausfalls von ein oder mehreren Fahrzeugen kann somit unter Umständen kein Ersatzfahrzeug zur Verfügung gestellt werden.
Stuttgart wird sich aber in den nächsten Jahren überlegen müssen, was es will. Die bestehenden Stadtbahnstrecken sind massiv überlastet. Vor allem an den neuralgischen Stationen in der Innenstadt passen keine weiteren Züge in die Tunnel, ein Ausbau des bestehenden Streckennetzes kann nur oberirdisch erfolgen. Und dann sollte die Entscheidung klar sein: Niederflurtechnik. Auch wenn das an vielen Haltestellen bedeutet, diese wieder abzureißen und umzubauen. Das Stadtbild in vielen Straßen und die Barrierefreiheit werden dadurch erheblich verbessert werden.
Ein Argument, dass oftmals gegen die gemeinsame Nutzung des Straßenraumes angeführt wird ist die Trennung des Verkehrs. Bei Stau können die Straßenbahnen nicht an den Autos vorbeifahren, da diese den Gleisraum zustellen. Das ist auf der Hackstraße auch bisher oft der Fall gewesen, da links und rechts der Gleise das Parken am Fahrbahnrand zulässig ist und nur der Gleisraum als echte „Fahr“-bahn zur Verfügung steht. Außerdem führen unvorsichtige Autofahrer, die auf solchen Straßen unerlaubter weise links abbiegen oder wenden, zu Zusammenstößen mit Straßenbahnen, die oftmals auch mit Verletzungen ausgehen.
Das es auch gemeinsam und nebeneinander funktionieren kann, beweist zur Zeit die Hackstraße. Die Baustelle Palmbräu/ Heimstiftung und ein damit verbundenes Halteverbot in der Hackstraße machen es möglich.

Hackstraße kurz vor dem Stöckach, stadteinwärts. Aufgrund einer Baustelle ist das Parken am Fahrbahnrand zur Zeit verboten. Bei Stau kann die Stadtbahn am Stau vorbeifahren. Gut so!
Es ist also gar nicht nötig, die Hackstraße zu untertunneln wie angeblich zur Zeit im Rahmen der Bürgerbeteiligung zum Sanierungsgebiet 29 diskutiert wird.
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